1. Kontextuelle Kanonistik
Wie andere Bereiche der Theologie bedarf auch das kanonische Recht, wie es in den beiden geltenden Codices der katholischen Kirche und den partikularen rechtlichen Bestimmungen einzelner Teilkirchen grundgelegt ist, einer Kontextualisierung. Obwohl diese Erkenntnis angesichts einer enger zusammenwachsenden Welt unter gleichzeitiger Betonung und Bestärkung kultureller Eigenheiten nicht neu ist, ist es das Arbeits- und Forschungsfeld einer wie immer gearteten kontextuellen Kanonistik sehr wohl. Ich bin davon überzeugt, dass sich der Schatz der Kulturen, der Sprachen, der Völker und der Identitäten auch und gerade in der Ausgestaltung und Fortschreibung des kirchlichen Rechtes niederschlagen soll und muss. So deutet das Schlagwort eines 'Kirchenrechtes im Weltkontext' eindeutig darauf hin, Recht und Ordnung innerhalb der kirchlichen communio stets konkret, d.h. kontextuell gebunden zu verorten und zu begründen. Lassen sich in Deutschland etwa andere rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, als es sie in Südkorea oder in Tansania gibt und braucht? Welchen Wert hat die rituelle Eigenständigkeit der Ostkirchen für die Ausgestaltung des Eigenrechtes dieser Kirchen? Aus meiner Sicht muss eine kontextuell ausgerichtete Kanonistik, die nicht nur dem Anspruch nach einer weltweit geltenden Normierung, sondern auch der Berücksichtigung verschiedener rechtlicher Traditionen bei der Rechtsetzung und -fortschreibung gerecht werden will, und außerdem den sozio-kulturellen Hintergrund, die Wertvorstellungen und den jeweiligen Traditionskreis, in dem Menschen sich bewegen und leben, ernstnimmt und wertschätzt, neun Prinzipien folgen: dem Prinzip der Autonomie, dem der Gleichursprünglichkeit, dem der Lokalität, dem einer partizipativen Rechtsetzung, dem der Rezeption, dem der kontextuellen Rechtsvergleichung, dem der Rechtsfortbildung, dem der Immunität des Partikularrechtes und dem der ökumenischen Ausrichtung.
2. Komparative Kanonistik
Mit dem Ansatz einer kontextuellen Kanonistik eng verbunden ist die Idee einer komparativen Kanonistik, der es um nichts anderes als eine die theologischen Grundlagen und die rechtlichen Ausgestaltungen berücksichtigende Rechtsvergleichung geht. Kirchliches Recht stellt sich, je nach Kirchenbild und -verständnis, anders dar. Der Kanonist wird - überblickt er den Bereich der einzelnen kirchlichen Rechtssysteme vorurteilsfrei - anerkennen müssen, dass evangelisches oder orthodoxes Kirchenrecht Vorteile gegenüber dem katholischen haben mag; andererseits bleibt es seine Aufgabe, auch die Vorzüge des kanonischen Rechtes, wie es sich über die Jahrhunderte entwickelt hat, aufzuzeigen und für den Dialog innerhalb der Kirchenrechtswissenschaft fruchtbar zu machen. Dabei darf und soll auch der Vergleich mit staatlichem Recht keineswegs ausbleiben. Im Gegenteil: Eine komparative Kanonistik fragt auch immer wieder danach, was kirchliches vom staatlichen Recht lernen kann - und umgekehrt.
3. Ökumenisches Kirchenrecht
Obwohl es ein Ökumenisches Kirchenrecht bis heute nicht gibt, bleibt der erstmals von Hans Adolf Dombois (1907-1997) formulierte Ansatz eines, das Recht der christlichen Konfessionen einenden Gnadenrechtes, der insgesamt doch einen wichtigen Beitrag zur Fundamentalkanonistik darstellt, bedenkens- und anerkennenswert. Da ich mich als katholischer Theologe und Kanonist ganz der lehrmäßigen Tradition, insbesondere den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) verpflichtet weiß, komme ich nicht umhin, das Kirchenrecht immer auch vor dem Hintergrund seiner ökumenischen Tragweite zu erschließen. Die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil entstandene Pflicht zur interpretatio oecumenica des kanonischen Rechtes kann und darf dabei keinerlei Vernachlässigung erleiden. Dazu gehört freilich, ökumenische Dimensionen der eigenen Doktrin auszuloten und die weitreichenden Konsequenzen für die Ökumene und das interkonfessionelle Miteinander der Kirchen und ihrer Glieder zu bestimmen. Kanonistische Forschung kann es sich darum nicht leisten, ökumenische Gesichtspunkte auszublenden und sich allein der Vermessung des intrakonfessionellen Rahmens zu widmen.